Selbstsabotage
Nach einschneidenden Erlebnissen beginnt gefühlt eine neue Zeitrechnung. Ab dann gibt es nur noch das „davor“ und das „danach“. Sämtliche Ereignisse werden neu kategorisiert, so als würden kleine Gedankenmitarbeiter im Kopf eine dicke rote Linie ziehen und alle Erfahrungen und Erinnerungen dadurch teilen. Jedes Datum, jedes Foto und jede Nachricht werden nur noch anhand dieser Zeitrechnung betrachtet und selbst glückliche Momente werden so schmerzlich überschattet. Im Moment mache ich genau das sehr häufig und stelle fest: es ist reine Selbstsabotage.
Eingeschränkte Wahrnehmung
Wenige Wochen vor Weihnachten ist mir aufgefallen, dass ich in der Stadt fast ausschließlich (vermeintliche) Mütter oder Omis mit ihren Töchtern beziehungsweise Enkelinnen sehe, die glücklich durch die Straßen schlendern, gemeinsam Kaffee trinken und Weihnachtsgeschenke besorgen. Jedes Mal versetzte es mir einen Stich in’s Herz und ich war traurig, neidisch und wütend. Ich sah plötzlich nur noch Mütter und Töchter vor mir und schien nichts anderes mehr wahrzunehmen. Können die nicht woanders hin gehen? Irgendwo, wo ich sie nicht sehen muss?!
Das gleiche Phänomen kann man beobachten, wenn man sich kürzlich vom Partner oder der Partnerin getrennt hat und auf einmal nur noch Händchen haltende Pärchen sieht – überall! Die eigene Wahrnehmung wird nach solchen Ereignissen getrübt, sei es nun eine Trennung, oder gar ein Todesfall. Man betrachtet die Welt plötzlich durch eine andere Linse, die nur noch auf das fokussiert ist, was man selbst nicht hat, aber gerne hätte. Dass man mit seinem Kummer dabei nicht alleine ist, fällt einem nicht auf, ganz im Gegenteil. Man fühlt sich, als würde man dieses Leid ganz alleine tragen und niemandem sonst geht es ähnlich (klar, alle sind doch glücklich und halten Händchen…).
„Davor“ und „danach“
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es nach solch einschneidenden Erlebnissen sehr leicht ist, in die Selbstsabotage zu rutschen. Das beschränkt sich dabei nicht nur auf die Wahrnehmung, sondern weitet sich auf andere Lebensbereiche aus. Fast automatisch unterteile ich Fotos, Erinnerungen und dergleichen in „davor“ und „danach“. Während ich also im ersten Moment vielleicht noch lächeln muss, werde ich im nächsten aufgrund der Kategorisierung unglaublich traurig. Es ist schwer zu beschreiben, aber jede noch so glückliche Erinnerung wird durch Selbstsabotage getrübt. Die Tatsache, dass man das genau so immer und immer wieder macht, obwohl man es besser weiß, erschwert alles zusätzlich.
Die richtige Richtung
Nun, welche Lösung habe ich gefunden? Um ehrlich zu sein – bis jetzt noch keine endgültige. Jedoch hilft mir die Tatsache, dass diese Form der eingeschränkten Wahrnehmung in mehreren Bereichen vorkommt und dass es somit irgendwie menschlich ist. Wenn ich auf dem Laptop oder dem Handy Fotos betrachte und das Aufnahmedatum sehe, kategorisiere ich sofort in „davor“ und „danach“, daran muss ich definitiv noch arbeiten. Aber inzwischen ertappe ich mich immer öfter dabei und das ist ein guter Anfang.
Ihr seht, Trauerarbeit – egal in welchem Bereich – hat unglaublich viele Facetten und Selbstsabotage gehört leider auch dazu. Sich diesen Umstand einzugestehen und daran arbeiten zu wollen, ist jedoch schon der erste Schritt in die richtige Richtung.