Nicht alles passiert aus einem bestimmten Grund
Wir alle haben den Satz „Alles passiert aus einem bestimmten Grund“ vermutlich schon einmal gehört oder selbst ausgesprochen. Er wird gerne in emotional schwierigen Situationen in den Raum geworfen, um Betroffene zu trösten – oder einfach, um unangenehme Stille zu füllen. Im heutigen Post beschäftige ich mich genauer mit dieser Floskel und traue mich schon vorab ganz direkt zu sagen: Nicht alles passiert aus einem bestimmten Grund.
Negative Emotionen nur ungern auszuhalten ist menschlich
Meiner Beobachtung nach versuchen wir Menschen tendenziell in allem einen Sinn zu finden. Sei es bei einer Trennung („Er/sie war es nicht wert, du findest jemand viel besseren!“), einem Jobverlust („Jetzt kannst du dich voll auf dich konzentrieren und endlich deine wahre Bestimmung finden!“), oder bei einem schlechten Tag („Nur so lernt man die guten Tage wieder zu schätzen, konzentriere dich auf das, wofür du dankbar sein kannst!“). Versteht mich nicht falsch, auch ich habe diese Sätze schon mal gesagt. Ich könnte noch seitenlang Floskeln auflisten, aber das würde nicht nur den Sinn dieses Beitrags verfehlen, sondern auch dafür sorgen, dass ihr nach kürzester Zeit gelangweilt den Tab wechselt und euch semi-lustige TikTok Videos anseht. Also zurück zum Thema. All diese Sätze können unter der folgenden Annahme zusammengefasst werden: Dass alles aus einem bestimmten Grund passiert und dass wir aus negativen Situationen etwas positives mitnehmen können. So weit, so gut. Lasst uns das mal genauer unter die Lupe nehmen.
Wenn uns etwas schlechtes, wie eine Trennung oder ein Jobverlust, passieren, versuchen wir irgendwie damit umzugehen. Eine verbreitete Strategie ist, einen tieferen Sinn dahinter zu suchen. Wir versuchen der negativen Erfahrung etwas positives abgewinnen zu können. Egal ob wir selbst drin stecken, oder jemand anderen damit aufheitern wollen. Prinzipiell ist das auch nicht verwerflich, es ist menschlich, dass wir negative Emotionen nur ungern aushalten und sie deshalb mit positive vibes ein wenig abschwächen wollen. Aber hier kommt der Knackpunkt: Nicht aus allen negativen Erfahrungen, egal ob den eigenen oder denen von anderen, lässt sich etwas positives ziehen.
Mit dem Schlauchboot gegen einen Tsunami
Nehmen wir ein ganz konkretes Beispiel: Der Tod eines geliebten Menschen. Eine derartige Floskel fühlt sich da an, als würde man mit einem Schlauchboot gegen den Tsunami an negativen Gefühlen ankommen wollen. Der Satz „alles passiert aus einem bestimmten Grund“ impliziert, dass auch solche Ereignisse einen tieferen Sinn haben, aus dem wir etwas positives mitnehmen können. Ich warte bis heute auf den Tag, an dem mir jemand sagen kann, welchen Grund der Tod eines geliebten Menschen haben könnte. Und Achtung, jetzt kommt ein Spoiler: Dieser Tag wird nie kommen. Manche Dinge, besonders die schrecklichen, passieren einfach. Da gibt es keinen tieferen Sinn, keine höhere Bestimmung, keine metamorphosenähnliche Verwandlung von der trauernden Raupe zum strahlenden Schmetterling. Manche Erfahrungen sind und bleiben einfach schei*e, ein Leben lang.
Warum also ist diese Floskel so verbreitet, warum geht sie uns so leicht über die Lippen und warum wird sie oft als Standardspruch verwendet, wenn wir uns nicht mehr anders zu helfen wissen? Vor einer Weile habe ich deshalb auf Instagram (meinen Account findet ihr hier) mal offen in die Runde gefragt, was meine Community von dem Satz „alles passiert aus einem bestimmten Grund“ hält. Die Antworten waren sehr vielfältig: Dass es auf Begegnungen mit Menschen sehr gut anwendbar ist, dass die Worte Hoffnung schenken können, aber auch schlicht Unwissenheit, wie die Floskel in all ihrer Gänze wirken kann. Ich habe gemerkt, dass der Meinungsaustausch nicht nur den/die ein oder andere*n zum nachdenken angeregt hat, sondern auch mich selbst. Diese Erfahrung war für mich sehr wertvoll, denn sie hat gezeigt, dass es hierbei viele Facetten und Meinungen gibt, die alle ihre Berechtigung haben.
Weniger Moralapostel, mehr Bewusstsein
Ich stehe hier also nicht als Moralapostel mit erhobenem Zeigefinger vor euch und sage „Ihr dürft diesen Satz nicht sagen, denn er ist total schlecht!“. Vielmehr möchte ich euch etwas Bewusstsein mit an die Hand geben, dass nichts immer gleich hilft und dass manchmal ein ehrliches „Ich weiß gerade nicht, was ich sagen/wie ich damit umgehen/wie ich dir helfen soll“ viel wertvoller ist, als jede noch so gut gemeinte, aber inhaltslose Floskel.
Abschließend lässt sich sagen, dass ich bei all diesen Überlegungen folgendes erkannt habe: Nur weil mir persönlich eine bestimmte Floskel gar nichts gibt, muss sie nicht grundlegend falsch sein. Was mir nicht hilft, kann jemand anderem die Welt bedeuten. Und ich habe den Schluss gezogen, dass es sich lohnt folgendes im Hinterkopf zu behalten: Man kann nicht aus jeder negativen Erfahrung etwas positives mitnehmen und sich daraus weiterentwickeln. Manche Dinge dürfen auch „nur“ wahnsinnig ätzend sein. Denn sicherlich passiert vieles aus einem bestimmten Grund, aber bei weitem nicht alles.
Wie denkt ihr darüber, passiert alles aus einem bestimmten Grund? Schreibt es gern in die Kommentare!